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image: „Хоть веточку яблони, хоть горстку тёплой земли“ Aвтор: Катарина Мартин-Виролайнен edition rossija 2020 Germany ISBN: 978-3-948730-03-1
BUCHBESPRECHUNG
„Хоть веточку яблони, хоть горстку тёплой земли“ Aвтор: Катарина Мартин-Виролайнен edition rossija 2020 Germany
Die Autorin Katharina Martin-Virolainen wurde 2020 mit dem Förderpreis des Russlanddeutschen Kulturpreises des Landes Baden-Württemberg in der Kategorie Literatur für ihr Erstlingswerk "Im letzten Atemzug" (2019) ausgezeichnet. Ein Teil der Erzählungen wurden aus dem Russischen übersetzt. Auf Einladung von imagofeminae bespricht Dr. Sandra Boihmane die muttersprachlichen russischen Originaltexte von Katharina Martin-Virolainen aus dem Erzählband Хоть веточку яблони, хоть горстку тёплой земли (2020).
Edited by: Dr. Phil. Sandra Boihmane &
Dipl.-Psych. Paiman Maria Davarifard
25.03.2022 imagofeminae INTERNATIONAL
Von Dr. Phil. Sandra Boihmane
image: Katharina Martin-Virolainen. Lesung bei der Buchmesse in Berlin 21.11.2021 Arena BUCHBERLIN2021. foto: imagofeminae Copyright 2021
image: Katharina Martin-Virolainen bei der Präsentation der eigenen Büchern. Buchmesse in Berlin 21.11.2021 Arena BUCHBERLIN2021.
foto: ©2021 imagofeminae
image: Cover des Buches „Im letzten Atemzug“ von Katharina Martin-Virolainen ostbooks Verlag; 2019. Edition (1. März 2019). Bild: Nikolaus Rode, (Frauen und kinder in Sibirien). ISBN 978-3-947270-06-4
Die Rückkehr nach Chalna Katharina Martin-Virolainen wird 1986 in der Karelischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik geboren. Sie wächst im karelischen Dorf Chalna auf. Die für viele unbekannte und fremde Gegend Kareliens wird in den Texten von Martin-Virolainen zum literarischen Ort, der sich zum Knotenpunkt ihrer lyrischen Erinnerungsfäden an die Kindheit verdichtet hat. Aus den mitgebrachten Erinnerungen flechtet die russlanddeutsche Autorin immer wieder neue Geschichten, in denen das entschwundene Karelien ihrer Kindheit durch die Buchstabenschwärze sichtbar und fassbar wird. In ihrem literarischen Flechtwerk lässt Martin-Virolainen den kalten karelischen Winter, das Nordlicht, die sandigen Straßen des Dorfes Chalna, die Holzhäuser, den Fluss, die Birkenhaine und die Menschen wieder aufleben. Immerwährend blüht der Flieder im Garten ihrer russischen Großmutter Tamara mit den unsterblichen Blüten der schwarzen Schriftzeichen auf weissen Papierfeldern. Aus den Geschichten weht ein imaginärer Wohlgeruch: Es duftet nach Flieder und frisch gebackenen Köstlichkeiten der Großmutter Tamara.
Die Ahnen Martin-Virolainen schreibt auf Deutsch und auf Russisch. Russisch ist ihre Muttersprache, die Sprache ihrer Mutter, Großmutter und Urgroßmutter. Es ist die Sprache ihrer mütterlicher Herkunftslinie. Ganz erlöscht ist das Finnische, die Vatersprache ihrer Mutter Irina. Die Russifizierung hat in Karelien tiefe Spuren hinterlassen. Die finno-ugrischen Sprachen haben im Laufe der Zeit ihre Leuchtkraft eingebüßt. Das Finnische, überlagert und verdrängt durch das Russische, ist in den Hintergrund getreten und wird nicht mehr aktiv angewendet. Martin-Virolainen gibt sich damit nicht zufrieden. Sie lässt die Vergangenheit nicht ruhen, sie kämpft gegen das Vergessen, die Gleichgültigkeit und das Desinteresse. Sie besitzt keine Affinität zu Lücken und weißen Flecken. Ihre Ich-Erzählerin gräbt in der Vergangenheit, schließt Lücken und öffnet somit Fenster zu längst vergangenen Zeiten und Türen für ihre Ahnen. In einer Geschichte erscheinen sie als unerwartete Gäste, weil sie gerufen wurden, weil man nach Ihnen gesucht und sie ausfindig gemacht hat.
Über die Deutschen hat die Ich-Erzählerin viel Material gesammelt. Der reichhaltige Stoff könnte unzählige Romane füllen. Die Ich-Erzählerin schreibt vorwiegend Geschichten. Beginnt aber auch schon mit Romanen. Ihre Geschichten erzählen über Freude und Leid, über Hunger und Entbehrungen, über Deportationen und Mord. Über Sprachlosigkeit und ihre Überwindung. Die Protagonistin ist auf der Suche nach Zugehörigkeit und Selbstbehauptung, nach ihren Wurzeln und Zusammenhängen, die zerstört sind, und die sie wieder verknüpft, verbindet und neu herstellt. Da ist zum Beispiel die Geschichte über ihren finnischen Urgroßvater Simo Virolainen. Wie zahllose sowjetische Finnen wurde auch er während der stalinistischen „Säuberungen“ 1938 ermordet. Seine Frau und seine drei Kinder wurden nach Sibirien deportiert. Sie starb 1942. Der Großvater der Ich-Erzählerin war damals vier Jahre alt. Er wuchs als Sohn des „Volksfeindes“ auf, ohne Mutter und Vater, lernte früh Leid und Hunger kennen. Ein gewöhnliches sowjetisches Schicksal. Das Grauen wurde damals „gewöhnlich“ und das Böse „banal“.
Die „russische“ Mutter Die Ich-Erzählerin zeigt in ihren Geschichten, was ethnische und kulturelle Hybridität bedeutet. Sie bricht mit Eindeutigkeit zugunsten von Ambivalenz und Mehrdeutigkeit. Ihr kulturelles Erbe ist heterogen, mehrsprachig und vielseitig. Die ethnisch und kulturell hybride Ich-Erzählerin, die Protagonistin der erzählten Geschichten, ist selbstverständlich die literarische Doppelgängerin der Autorin Katharina Martin-Virolainen. Aus dem Finnischen übersetzt, bedeutet „virolainen“ „die Estin“, „der Este“, „estnisch“. Paulina, die Tochter der Protagonistin, muss erkennen und lernen, dass ihre Mutter alles und vieles ist: russisch-finnisch-deutsch. Besonders stolz ist sie auf ihre russische Mutter, die finnisch-deutsche Mutter muss sich noch behaupten. Die Matrilinearität spielt für Paulina eine bedeutsame Rolle: Sie entfaltet ihre Backkünste, die immer besser werden, backt oft und gerne wie ihre russische Urgrossmutter, die Köchin Tamara. Sie kämpft wie die finnischen Feministinnen und hat sogar eine Balalaika. Wird sie in der Schule von irgendwelchen Kevins genervt und belästigt, so bekommt Kevin eins auf den Deckel. Die Kampfwaffe war leider schlecht gewählt. Die Lehrerin verpasste Paulina einen Eintrag ins Hausaufgabenheft. Der „russischen“ Mutter scheint der finnische Feminismus nicht fremd zu sein und auch die russischen Revolutionärinnen wären stolz auf sie: „Für ein Mädchen steht Selbstverteidigung an erster Stelle.“ Die deutsche Übersetzung der Erzählung „Vom Borschtsch und der Erziehung“ relativiert und verbiegt die geradlinige Aussage: „Was denn? Selbstverteidigung ist für Mädchen das A und O!“ WAS DENN? Wozu das „Was denn?“ Für wen? Im russischen Original gibt es kein „Was denn?“. Die Geschichte handelt von Mentalitätsunterschieden und dieses „Was denn“ ist dafür der beste Beweis. Für das nächste Mal: „In solchen Situationen nimmt man einen Gegenstand, der nicht zerbricht.“ Ein guter Ratschlag einer guten Mutter. Emma Goldman würde zustimmen.
Hybridität versus Matrilinearität und Patrilinearität Die Ich-Erzählerin von Martin-Virolainen hat mit ihrem Deutschsein zu kämpfen. Man nimmt ihr nicht ab, dass sie eine „echte“ Deutsche ist und dass ihre „echte“ Heimat Deutschland ist. Ich nehme ihr das auch nicht ab, ohne zu behaupten, dass sie nicht Deutsch ist und ohne zu behaupten, dass sie Russin ist. In den vorherrschenden Verhältnissen der Patrilinearität ist Deutschland ihr Vaterland und Deutsch ist ihre Vatersprache. Deutschland will den Vater, Israel die Mutter. Dass die Mutter hinsichtlich der Herkunftsbestimmung auch Mal ins Gewicht fällt, gleicht einem Wunder. Mütterlicherseits ist die Ich-Erzählerin eine „echte“ Russin, ihr finnischer Großvater hat matrilinear nicht zu interessieren. Beide Herkunftsableitungen sind für mich jedoch falsch, weil sie einseitig und willkürlich sind, weil immer eine Seite abgewertet wird, weniger wert ist und weniger zählt, gar ausgeblendet wird. Die matrilineare Herkunft lässt die Ich-Erzählerin nicht los. Es ist ihr unmöglich, ihre russische Herkunftslinie zu verleugnen. Das käme dem Muttermord gleich. Zu „ihrem“ Russland zählt die Ich-Erzählerin auch Alexander Puschkin und Michail Lermontov. Die afrikanischen Vorfahren Puschkins mütterlicherseits müssen nicht weniger genial gewesen sein als seine russischen Vorfahren väterlicherseits. Lermontovs schottische Wurzeln haben sicherlich seine Genialität befördert. Es hat hunderte von Jahren gedauert bis man sich das bewusst gemacht hat. Wir sollten keinen Verrat mehr an der Hybridität begehen, denn sie wurde immer verraten, zugunsten eindeutiger Kategorien und willkürlicher Definitionen. Über eindeutige Zuordnungen lassen sich Ausschlüsse leichter produzieren.
„Die Unnützen“ Während der mehrfachen Lektüre von „Die Unnützen“ fällt mir die „Sentimentale Reportage“ (1927) von Joseph Roth ein. Ich muss an die vielen Katzen in den Geschichten von Martin-Virolainen denken und dass sie alle von keiner Rasse sind, dass sie für die Ausgestoßenen da sind, wie der „falsche Fox“ bei Joseph Roth. Die „schlechte Rasse“ des Mischlingshundes ist doppeldeutig zu verstehen. Denn es geht ja auch immer um Menschen:
„ [...] und weil ich die Mischungen höher schätze als die mühsam gezüchteten Abkömmlinge reiner Rassen (die auch durch Mischungen entstanden sind) und weil ich - vielleicht im Gegensatz zur Naturwissenschaft - glaube, dass die Ereignisse einer zufälligen, unkontrollierten und obdachlosen Leidenschaft intelligenter sind als die einer sorgfältig vermittelter Tier-Ehe, wurde mir der gleichgültige und fremde Hund sympathisch. Er war kein Fox. Aber er war ein Hund.“ (Joseph Roth) Er war weder noch. Er war ein Jemand mit vielen Herkünften. Die „Unnützen“ haben sich zusammengetan. Sie schrieben einen Roman. Sie hatten einen Roman, ein Liebesverhältnis. Diesem Roman verdanken sowohl die Protagonistin als auch die Autorin ihre Existenz. Sein reicher Inhalt birgt noch viel Stoff für weitere Geschichten und neue Romane.
image: Dr. Phil. Sandra Boihmane
Dr. Phil. Sandra Boihmane studierte deutsch-lettische Kulturbeziehungen an der Lettischen Kulturakademiein Riga. Nach ihrem Studium arbeitete sie im Eduards-SmilIgis-Theatermuseum. Mit einem DAAD-Stipendium kam sie nach Berlin. An der Humboldt-Universität studierte sie Gender Studies and Kulturelle Kommunikation Theaterwissenschaften und beteiligte sich an verschiedenen Forschungsprojekten, u.a. an „Gender Matters in the Baltics“. 2014 schloss sie ihre Promotion in Gender Studies ab. 2021 beteiligte sich Dr. Sandra Boihmane am Ausstellungsprojekt der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden „Sprachlosigkeit-Das laute Verstummen.
imagofeminae # XXXI Winter 2021-2022 Redaktion INTERNATIONAL . Edited by: Dr. Phil. Sandra Boihmane & Dipl.-Psych. Paiman Maria Davarifard 25.03.2022 imagofeminae „international“ Buchbesprechung zum „Хоть веточку яблони, хоть горстку тёплой земли“ Aвтор: Катарина Мартин-Виролайнен edition rossija 2020 Germany
Von Dr. Phil. Sandra Boihmane.
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